„Mit der Vollendung der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 wurde Deutschland wieder zu einem vereinten, freien und souveränen Land“, blickte Landrätin Eva Irrgang in ihrem Grußwort zurück. Sie rief ins Gedächtnis, was mutige Menschen im Osten bewegt haben, als sie 1989 in Massen auf die Straße gingen. Diesem friedlichen Ereignis, an das heute – 35 Jahre später – erinnert werde, stünden die täglich eintreffenden schlimmen Nachrichten aus der Ukraine diametral entgegen. Der nun schon im vierten Jahr tobende russische Angriffskrieg missachte internationales Recht sowie rechtsstaatliche und demokratische Werte, unterstrich die Landrätin: „Unsere Solidarität gilt nach wie vor den Menschen, die seitdem um ihr Leben fürchten und Terror und menschliches Leid erfahren.“
In den Fokus rückte Eva Irrgang auch die besorgniserregenden antidemokratischen Kräfte, die sich in ganz Europa entwickelt haben. Die globale digitale Transformation befeuere das Erstarken von Populisten und Extremisten noch. „Auf hochkomplizierte Fragen werden ganz einfache Antworten gegeben. Daher ist es wichtig, dass politische Bildung gefördert wird – nicht nur in Schulen, sondern auch in informellen Räumen“, erklärte die Landrätin. Es gehe darum, Demokratie, Freiheit und Grundrechte selbst zu erleben und Gestaltungsräume zu nutzen, die das Vertrauen in die Demokratie stärken und deren Erhalt sichern.
Kollektive Freude über das wiedervereinte Deutschland
Mit Emil Müller, geboren 1957, trat anschließend ein Zeitzeuge ans Rednerpult, der in unmittelbarer Nachbarschaft zum ehemaligen Zonenrandgebiet des geteilten Deutschlands lebt und die Einheit hautnah erlebt sowie politisch mitgestaltet hat. Müller engagiert sich seit weit über 30 Jahren im kommunalpolitischen und sozialen Bereich. Von 1990 bis 2008 war er Erster Bürgermeister des Marktes Burkardroth, anschließend bis 2014 Mitglied des Marktgemeinderats. Dem Kreistag des Landkreises Bad Kissingen gehört er seit 1996 an. Seit 2008 ist er dort stellvertretender Landrat. Emil Müller ist Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande.
„Vom Rand in die Mitte – das ist unsere Geschichte hier in der Rhön“, stellte Müller fest. Jahrzehnte lang sei die Rhön geteilt gewesen. „Hier im Herzen Deutschlands trennte der eiserne Vorhang die Menschen. Teilweise ging die Grenze mitten durch Ortschaften. Aus Nachbarn wurden Fremde, aus Freunden wurden Feinde.“ Den Mut der Menschen im Osten bei den Montagsdemonstrationen könne er nur bewundern, schloss er sich Landrätin Irrgang an.
Der kollektiven Freude über das wiedervereinte Deutschland – „Fremde umarmten sich. Tränen flossen“ – sei eine Zeit des gegenseitigen Kennenlernens gefolgt, aber auch eine Zeit der Herausforderungen, erinnerte sich der Zeitzeuge. Während sich für die Menschen im Westen kaum etwas geändert habe, hätten viele Menschen im Osten von dem Aufbruch und den blühenden Landschaften, die der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl ihnen versprach, nicht viel gespürt. Im Gegenteil: „Sie verloren ihren angestammten Arbeitsplatz und mussten das Phänomen Arbeitslosigkeit kennenlernen, das es ja offiziell in der ehemaligen DDR nicht gab.“
Heute, 35 Jahre nach dem Mauerfall, seien Ost und West trotz aller Herausforderungen zusammengewachsen. Grenzen, so betonte Emil Müller, könne man abbauen: „Nicht nur mit Schweißbrennern, sondern mit Herz, Haltung und politischem Willen.“ Die Einheit sei indes kein Zustand, sondern ein fortdauernder Prozess. Sie brauche Pflege, Ehrlichkeit und Menschen, die Brücken bauen. „Dabei ist es unsere wichtigste Aufgabe, dafür zu sorgen, dass auch künftige Generationen in Frieden, Freiheit und Demokratie leben können. Lassen Sie uns gemeinsam weiter daran arbeiten für die Menschen, für eine gute Zukunft“, schloss er mit einem Appell seine Rede.
Dank an die Landrätin
Mit dem Mauerfall mussten staatliche Strukturen und Institutionen in der Prägung eines 40 Jahre real existierenden Sozialismus mit den westlichen Strukturen vereinbart werden, richtete IGCS-Vorsitzender Dirk Pälmer und Oberst der Reserve den Blick auf eine weitere große Herausforderung der deutschen Wiedervereinigung. Dieser Kraftakt sei gelungen, weil alle mit Wille und Einsatz das gemeinsame Ziel verfolgt hätten. „Die Politik schaffte die Voraussetzungen und Wirtschaft und Industrie, Treuhand und staatliche Institutionen gingen in die fünf neuen Bundesländer, um diese aufzubauen und demokratische staatliche Strukturen zu schaffen – mit den Erfahrungen von damals 40 Jahren Bundesrepublik Deutschland“, so Pälmer.
Pälmer nutzte überdies die Gelegenheit, der scheidenden Landrätin Eva Irrgang seinen Dank auszusprechen. Irrgang habe auch gegen Widerstände unbeirrt an dem gemeinsamen Festakt zum Tag der Deutschen Einheit mit dem Internationalen Garnisons-Club Soest festgehalten, der in dieser Form erstmals 2008 begangen wurde. „Gerne hätte ich, hätten wir mit Ihnen gemeinsam noch einige Jahre so weitergemacht“, betonte er und verband damit zugleich die Zuversicht, dass das Format unter dem neuen Landrat Heinrich Frieling weitergeführt werde.
Brücken bauen und das Verbindende suchen
Abschließend ergriff Enses Bürgermeister Rainer Busemann das Wort. „Gerade in der aktuellen politischen Lage, in der unsere demokratischen Werte unter Druck geraten, müssen wir die Menschen wieder mitnehmen, sie einbinden und ihnen zeigen: Demokratie lebt nur, wenn wir sie gemeinsam gestalten“, unterstrich er. Es gelte, Brücken zu bauen und das Verbindende zu suchen. Der jungen Generation rief Rainer Busemann zu: „Eure Stimmen, Eure Ideen und Eure Haltung werden entscheidend sein dafür, ob wir Freiheit, Demokratie und Einheit auch in Zukunft bewahren.“
Durch die Feierstunde führte in bewährter Form Moderator Jochen Siering, Fregattenkapitän der Reserve. Den musikalischen Rahmen gestalteten Adelheid Wagner-Usler am Klavier und Ida Peck an der Querflöte, beides Musikerinnen der Musikschule Werl-Wickede(Ruhr)-Ense.
Hintergrund:
Die Feier zum Tag der Deutschen Einheit hat im Kreis Soest Tradition: Seit inzwischen 18 Jahren prägen Rednerinnen und Redner, Zeitzeugen und Schülergruppen das Programm der Veranstaltungen. Aus verschiedenen Perspektiven werden die historische Wende und die damit verbundenen menschlichen Schicksale beleuchtet.